Wolfhagen

September 2008

Die Stadt Wolfhagen (14.000 Einwohner) möchte bis zum Jahr 2015 ihren gesamten Strombedarf selbständig aus Erneuerbaren-Energien-Anlagen decken und eine ausgeglichene CO2-Bilanz vorweisen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Stadt das Stromnetz vom Netzbetreiber zurückgekauft und verschiedene Erneuerbare-Energien-Projekte geplant.

Rückkauf des Stromnetzes als Voraussetzung für die regionale Wertschöpfung

„Mit dem Netzrückkauf kann die Stadt wieder eine eigenständige, kommunale Energiepolitik betreiben. Deshalb ist der Rückkauf für unsere Stadt so wichtig“, betont der Geschäftführer der Stadtwerke Wolfhagen, Martin Rühl. Der Hauptteil der Energie soll in Zukunft aus Windenergieanlagen, Solarzellen und Biomassekraftwerken stammen. Die Stadt verspricht sich von diesem Engagement neben dem Klimaschutz, eine stärkere lokale Wertschöpfung und attraktivere Standortbedingungen.

Herr im eigenen Haus

Die Stadtwerke Wolfhagen, ein Tochterunternehmen der Stadt setzt auf eine selbstbestimmte und unabhängige Energiepolitik. Dafür ist es von großer Bedeutung, im Besitz des Netzes zu sein. Als erste Gemeinde in Nordhessen kauften die Wolfhagener Stadtwerke das Stromnetz von E.on zurück, um künftig die Stromproduktion und Verteilung selbst in die Hand zu nehmen. Problematisch war der hohe Verkaufspreis: Nach Einschätzung des städtischen Versorgers lag der geforderte Kaufpreis über 180 Prozent des tatsächlichen Werts. Die Stadt zahlte die Summe von 2,4 Millionen Euro - unter Vorbehalt. Man wollte möglichst schnell eigene Schwerpunkte in der kommunalen Energiepolitik setzen.

Rückkauf der Netze - Ein scharfes Schwert

Praktisch haben die vier großen Energieversorger die Netze in Deutschland unter sich aufgeteilt und beeinflussen so erheblich die Energiepolitik. Das Kartellamt sieht auf dem deutschen Energiemarkt durch „ kartellrechtliche unzulässige Kooperationen“ der großen Stromkonzerne den Wettbewerb behindert. Wo kein Wettbewerb herrscht, wird der Status quo konserviert. Ein schneller Ausbau der Erneuerbaren Energien auf kommunaler Ebene wurde dadurch jahrelang verzögert. Doch die Kommunen haben das Recht, die ursprünglich im kommunalen Besitz befindlichen Netze zurückzukaufen. „Die Kommunen verfügen mit den Konzessionsverträgen über ein scharfes Schwert, mit dem sie sich gegen die Willkür der Energieriesen wehren und ihre Energieversorgung wieder selbst in die Hand nehmen können“, erklärt der Geschäftsführer der Stadtwerke Wolfhagen Martin Rühl.

Auf dem Weg zur 100-Prozent-Kommune

Erneuerbare-Energien-Anlagen tragen derzeit in Wolfhagen rund 7 Prozent zur Stromversorgung bei. Die Nordhessen planen den Bau eines großen Windparks. Mit fünf modernen Windenergieanlagen ließen sich über 25 Millionen Kilowattstunden pro Jahr produzieren und so mehr als die Hälfte des jährlichen Strombedarfs decken. Eine Vorabuntersuchung hat ergeben, dass einige Windstandorte Küstenqualität haben und somit über 3000 Volllaststunden im Jahr durchaus möglich sind. Mit weiteren Projekten, wie der Installation von Photovoltaikanlagen, Biogasanlagen und Energieeinsparungen wollen die Stadtwerke bis zum Jahr 2015 ihren gesamten Strombedarf selbständig und umweltfreundlich erzeugen.

Mit den Bürgern für die Bürger

Die Stadtwerke möchten die Erneuerbaren-Energien-Projekte mit großer Akzeptanz bei den Bürgern umsetzen. Vor diesem Hintergrund werden regelmäßig Informationsveranstaltungen durchgeführt. Bekanntmachungen in der Lokalzeitung und Exkursionen zu Anlagen in anderen Gemeinden runden eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit ab. „Für den Erfolg unseres Projektes ist die Beteiligung der Wolfhagener Bürger von entscheidender Bedeutung. Solch eine historische Weichenstellung betrifft alle Bürger. Dieses Projekt steht und fällt mit ihnen“, betont Bürgermeister Reinhard Schaake.

Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Beteiligung der Wolfhagener Bürger an der Energiewende vor Ort bietet seit März 2012 die BürgerEnergieGenossenschaft Wolfhagen eG. Stromkunden der Wolfhagener Stadtwerke können mit einer Mindestbeteiligung von 500 Euro, die auch in Raten zahlbar ist, Anteile an den Stadtwerken erwerben. Im Aufsichtsrat der Stadtwerke vertreten zwei Genossenschaftsmitglieder die Interessen von Bürgern wie Mitgliedern. Über Veto- und Vorkaufsrechte und qualifizierte Mehrheiten kann die BürgerEnergieGenossenschaft gestaltend auf die energiepolitische Ausrichtung der Stadtwerke Einfluss nehmen.

Die Bürgerbeteiligung eröffnet den Stadtwerken aber auch neue finanzielle Spielräume. Über ihre Einlagen stockten die 264 Gründungsmitglieder der Energiegenossenschaft das nominale Stammkapital der Stadtwerke von 1 Millionen auf 1,33 Millionen Euro auf. Zukünftig ist die Genossenschaft zu 25 Prozent an den Stadtwerken beteiligt. Der Wert der Beteiligung beträgt insgesamt 2,3 Millionen Euro. Damit stehen zusätzliche Mittel für neue Erneuerbare-Energien-Projekte zur Verfügung. Die Mitglieder der Energiegenossenschaft werden, zusätzlich zu ihrer Dividende, aus einem speziellen Fonds bei privaten Energieeffizienz-Projekten finanziell unterstützt. Das Modell der Wolfhagener Energiegenossenschaft macht damit deutlich, dass der Ausbau Erneuerbarer Energien und eine Steigerung der Energieeffizienz für die Umsetzung der Energiewende Hand in Hand gehen müssen. 

Stadt holt sich wissenschaftliche Unterstützung

Wissenschaftliche Unterstützung erhalten die Wolfhagener vom Kompetenznetzwerk Dezentrale Energietechnologien, kurz deENet. Mit dem Projekt "Entwicklungsperspektiven für nachhaltige 100%-Erneuerbare-Energie-Regionen in Deutschland" verfolgt die deENet das Ziel, Kommunen und Regionen bei der Umstellung auf eine Vollversorgung mit Erneuerbaren Energien wissenschaftlich zu begleiten und zu beraten. „Die Region kann überproportional profitieren, wenn wir die Chancen, die sich durch die Umstrukturierung in der Energiewirtschaft ergeben, systematisch nutzen“, erklärte der Geschäftsführer der deENet, Martin Hoppe Kilpper, auf einer Informationsveranstaltung in der Wolfhagener Stadthalle. Dabei gehe es um Faktoren wie Arbeitsplätze, regionale Wertschöpfung und Kaufkraftbindung. In Bezug auf Beschäftigung sei die Erneuerbaren-Energien-Branche im Jahr 2020, so Hoppe-Kilpper, genauso bedeutend wie die Automobilindustrie heute.“

Projekt mit Vorbildwirkung

Der Rückkauf und die angestrebten Erneuerbaren-Energien-Projekte haben eine enorme positive Ausstrahlung. Im Frühjahr 2008 besuchten die Bürgermeister von fünf Kommunen die nordhessische Gemeinde. Die Möglichkeiten einer unabhängigen und selbstbestimmten Energieversorgung mit Erneuerbaren Energien waren von besonderem Interesse. „Wir lassen andere Kommunen gern an unseren Erfahrungen mit der Netzübernahme teilhaben, damit sie auch eine abgewogene Entscheidung treffen können“, betont Martin Rühl. Einige Kommunen könnten dieses Angebot bereitwillig aufnehmen. Allein im Landkreis Kassel schätzt man, dass ein Großteil der 29 Städte und Gemeinden den Rückkauf ihres eigenen Netzes anstreben.