Kappel

Juni 2019

Gemeinden und Landkreise im ländlichen Raum leiden oft darunter, dass es ihre Einwohner*innen in Städte zieht. Dort gibt es Jobs, das öffentliche Verkehrsnetz ist sehr viel besser ausgebaut und auch der technische Fortschritt wird eher mit Metropolregionen und Städten konnotiert. Nicht so in Kappel: Die kleine Gemeinde mit etwa 470 Einwohner*innen hat ihre ländliche Lage zur Tugend gemacht, nutzt nachwachsende Rohstoffe aus der Region und betreibt eine Biogasanlage sowie ein genossenschaftliches Nahwärmenetz. Kappel gehört zu einem der innovativsten Landkreise in Deutschland: dem Rhein-Hunsrück-Kreis. Lange war er strukturschwach, heute wird dort dreimal so viel erneuerbarer Strom produziert wie er selbst verbrauchen kann. Dass der Kreis als Ganzer so erfolgreich ist, liegt an den einzelnen Gemeinden, die den Ausbau der Erneuerbaren stark vorantreiben und hier Verantwortung übernehmen. 

Um Klimaschutzprojekte auf kommunaler Ebene umzusetzen, braucht es engagierte Menschen, die Projekte initiieren, mit Herzblut vorantreiben sowie die Verwaltung und Bürger*innen mitnehmen. Einer von ihnen ist Frank-Michael Uhle. Seit 2012 ist er Klimaschutzmanager für den Rhein-Hunsrück-Kreis und hat die dezentrale Energiewende maßgeblich vorangetrieben. Auch in Kappel stand er mit Rat und Tat zur Seite und hat bei Projektplanung und -umsetzung unterstützt.

Interview mit Frank-Michael Uhle

„Wir haben erlebt, wie Erneuerbare Energien zum größten Wirtschaftsförderungsprogramm in der Geschichte unseres Landkreises wurden.“

Herr Uhle, bevor wir über das hier und jetzt sprechen: Wann war der Startschuss für den Ausbau der Erneuerbaren – und warum?
Im Landkreis haben wir vor über 20 Jahren mit Energieeffizienzmaßnahmen in Gebäuden begonnen. Da sah es hier noch ganz anders aus – keine einzige Kilowattstunde wurde damals vor Ort erzeugt, wir mussten den gesamten Strom importieren. Ab dann haben wir nach und nach Erneuerbare-Energien-Projekte an den Start gebracht. In der Gemeinde Kappel ging es 2011 mit einer landwirtschaftlichen Biogasanlage los, 2012 kam der Windpark hinzu und 2014 hat sich hier eine Energiegenossenschaft gegründet, um den Bau und den Betrieb eines Nahwärmenetzes umzusetzen.

Die Frage nach dem „Warum?“ hat sich mir persönlich nie gestellt. Denn es steht nichts weniger auf dem Spiel als der Lebensraum der gesamten Menschheit. Wir müssen der menschengemachten Erderwärmung etwas entgegensetzen – effektiv wird das nur mit dem Ausbau von Erneuerbaren Energien gehen. Hinzukommt, dass unsere Region wirtschaftlich und damit finanziell nicht besonders gut dastand. Auch das ist jetzt anders, denn die Ortsgemeinden im Rhein-Hunsrück-Kreis haben mit 20 Prozent des Landesdurchschnitts die geringste kommunale Verschuldung in Rheinland-Pfalz. Heute wissen wir: Dezentrale Energieerzeugung und regionale Wertschöpfung sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

Können Sie uns mehr zu Biogasanlage, Windpark und Nahwärmenetz in Kappel erzählen, wie Projekte zusammenhängen und welche Synergien genutzt werden?
In Kappel haben Bürgerinnen und Bürger eine Energiegenossenschaft gegründet, die ein Nahwärmenetz betreibt. An dieses Netz sind heute 93 von 135 Häusern im Ort angeschlossen, was über zwei Drittel des Dorfes entspricht. Dieses Jahr sollen zehn weitere Hausanschlüsse dazu kommen. Schon 2011 ging hier die Biogasanlage in Betrieb. Dort werden nachwachsende Rohstoffe wie Mais und Ganzpflanzensilage, Gülle und Mist aus der Region vergoren. Dabei entsteht Biogas, das in drei Blockheizkraftwerken verbrannt wird. Mit jedem Blockheizkraftwerk wird ein Generator angetrieben und Strom erzeugt, der in das öffentliche Stromnetz eingespeist wird. Die Wärme wird in der Haupt-Heizperiode in einem Holzhackschnitzel-Heizwerk erzeugt – das meiste dafür notwenige Holz stammt aus dem Gemeindewald. Die Abwärme der Blockheizkraftwerke wird in das Nahwärmenetz der Energiegenossenschaft eingespeist. In den Übergangszeiten sowie den Sommermonaten genügt diese Abwärme, in den Wintermonaten wird die Spitzenlast durch die Biomassekessel des Heizkraftwerkes erzeugt. Fällt die Biogasanlage aus, hat das Heizwerk mit 1.000 Kilowatt genügend Leistung, um den Bedarf jederzeit zu decken. Im Sommer anfallende Wärme, die nicht in das Nahwärmenetz eingespeist werden kann, wird genutzt, um Holzhackschnitzel oder Getreide zu trocknen. Zusätzlich drehen seit dem Frühjahr 2012 die Rotoren im Kappeler Windpark. Er ging ursprünglich mit sieben Anlagen des Typs Enercon E-82 in Betrieb, heute drehen sich 17 Windkraftanlagen auf der Kappeler Gemarkung. Der Windpark wird von juwi betrieben und ist der leistungsstärkste in Süd-West-Deutschland.

Ein wichtiger Aspekt der Energiewende ist ja, dass sie von der ganzen Gesellschaft getragen wird und alle von ihr profitieren können. Wie war das in Kappel?
Ich glaube, dass die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger für den Erfolg der Energiewende nicht nur wichtig, sondern entscheidend ist. Beteiligung ist eine Frage der Fairness und schafft gleichzeitig Akzeptanz für die Transformation, die wir so dringend brauchen. Menschen wollen partizipieren und die Entwicklungen in ihrer Heimat prägen und mitbestimmen. Das war auch in Kappel so, wo vor fünf Jahren 70 Gründungsmitglieder die Satzung der Genossenschaft unterschrieben haben.

Kappel steht symbolisch für den entscheidenden Beitrag, den die Energiegenossenschaften in unserem Kreis zum Erfolg der Energiewende geleistet haben: Die HunsrückSonne war im Jahr 2010 die erste Solargenossenschaft und gleichzeitig der Initiator für das erste Solardachkataster in Rheinland-Pfalz, Solix Energie betreibt ein Bürgerwindrad in Lahr und die Nahwärme-Genossenschaften in Beltheim-Mannebach und Ober Kostenz waren Wegbereiter für die Kappeler Genossinnen und Genossen.

In Kappel wurden die Bürgerinnen und Bürger auch bei anderen Klimaschutzmaßnahmen einbezogen: Der Gemeinderat hat im Jahr 2015 eine umfangreiche „Richtlinie zur Förderung von energetischen Maßnahmen“ beschlossen. Ziel war es, möglichst viele der rund 200 Kappeler Haushalte für den Einsatz regenerativer Energien und für Energieeinsparungen zu gewinnen. Viele Hausbesitzer und Mieter haben sich das Motto „Energiesparen für Jedermann“ zu eigen gemacht und Zuschüsse etwa für den Austausch nicht mehr zeitgemäßer Fenster und Türen oder die Anschaffung energiesparender Elektrogeräte (weiße Ware) beantragt. Im vergangenen Jahr wurde darüber hinaus ein LED-Tauschtag für alle Haushalte angeboten. Insgesamt 139 Haushalte nahmen daran teil und tauschten auf Kosten der Gemeinde mehr als 2.300 alte Glühbirnen gegen LED. Gleichzeit wurde in allen gemeindlichen Einrichtungen inklusive der beiden Kirchen noch vorhandene alte Leuchtmittel gegen LED ausgetauscht.

Beteiligung ist ein wichtiger Aspekt, die Frage der Finanzierung aber mindestens genauso entscheidend: Können Sie das im Zusammenhang mit Kappel genauer erläutern?
Ein unschlagbarer Effekt von Genossenschaften ist, dass auch die finanzielle Last auf mehrere Schultern verteilt wird. Denn als die Idee für ein Nahwärmenetz hier aufkam, war klar, dass Bau und Betrieb nicht alleine durch die Gemeinde getragen werden können. Basierend auf einer Machbarkeitsstudie ging die Arbeitsgruppe von Haus zu Haus, um die Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer dazu zu bewegen, sich für das Wärmenetz zu entscheiden. Denn je mehr mitmachen, desto günstiger das Projekt. Der Gemeinderat beschloss 2014 ein Förderprogramm der energetischen Herstellung oder Sanierung von Anlagen für die Beheizung von Gebäuden. Dadurch wurden Haushalte die sich an das Nahwärmenetz angeschlossen haben oder in einer anderen Form erneuerbar heizen gefördert.  Dies war auf Grund der Windpachteinnahmen möglich. Durch den Zuschuss der Ortsgemeinde und den Genossenschaftsanteil eines jeden Mitgliedes, war das Startkapital in Kappel vorhanden.

… woraufhin die Genossenschaft mit dem Projekt loslegen konnte?
So ist es. Die Genossenschaft hat daraufhin die Planung und den Aufbau der gesamten Anlage durchführen lassen, mit Banken einen Finanzierungsplan erstellt und öffentliche Fördermittel beantragt. Heute zählt die Genossenschaft etwa 100 Mitglieder, die auch Gesellschafter sind. Die drei Vorstandsmitglieder und fünf Aufsichtsratsmitglieder werden von der Hauptversammlung gewählt. Gemäß dem deutschen Genossenschaftsgesetz hat jedes Mitglied eine Stimme, unabhängig von der Anzahl der gehaltenen Aktien. Demokratischer kann ein Dorf seine Zukunft nicht gestalten! Außerdem erzielt die Gemeinde rund 250.000 Euro Erträge aus Windpacht und Wegenutzung. In 20 Jahren sind dies fünf Millionen Euro, die der Bevölkerung zu Gute kommen, um die Herausforderungen des demografischen Wandels zu meistern.

Aus den Gesprächen mit den Mitgliedern der Genossenschaft in Kappel weiß ich, dass auch hier die internationale Politik und globale Ereignisse eine Rolle gespielt haben. Denn eine Motivation für ihre Gründung war auch die Überlegung, dass Erdölreserven endlich sind und allen Beteiligten klar war: Wir müssen nachwachsende Rohstoffe verwenden – und die haben wir vor unserer eigenen Haustür.

Der Rhein-Hunsrück-Kreis ist mittlerweile Vorbild für Kommunen in Deutschland und weltweit: Was können Delegationen etwa aus Japan oder Kenia von Kappel lernen?
Wir haben bisher Delegationen aus 50 Ländern empfangen, die Ideen und Anregungen für deren dezentrale Energiewende mit nach Hause genommen haben. In Kappel hat sich gezeigt, wie Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und die Gemeinde zusammenarbeiten können, um eine effiziente und nachhaltige Wärmeversorgungsinfrastruktur zu stabilen und erschwinglichen Preisen aufzubauen. Was sicherlich auch auf andere Länder und Communities übertragbar ist: Akzeptanz durch wirtschaftliche Erfolge schaffen. Wer regional verfügbare Energieträger nutzt, macht sich von Importen und Preisen auf dem Weltmarkt unabhängig. Da das Nahwärme-Projekt Kappel importiertes Öl durch lokale Biomasse ersetzt, bleiben geschätzte 3,4 Millionen Euro während der 20-jährigen Laufzeit in der Region, die vorher als Ölimportkosten abgeflossen sind. Zudem werden durch den Bau von regenerativen Energieanlagen Firmen und das Handwerk aus der Region beschäftigt. Wir wandeln somit Energieimportkosten in regionale Arbeitsplätze und Wertschöpfung um!

Können Sie weitere Zahlen nennen, an denen die Wertschöpfung in Ihrer Region deutlich wird?
Wir im Rhein-Hunsrück-Kreis haben erlebt, wie Erneuerbare zum Wirtschaftsförderungsprogramm wurden und wie wir davon profitieren. Im Jahr 2010 betrug die regionale Wertschöpfung aus dem Betrieb der EEG-Anlagen im gesamten Kreis elf Millionen Euro. Dieser Wert war im Jahr 2017 bereits auf 44 Millionen Euro angewachsen. In den 20 Jahren Betrieb der Windkraft-, Photovoltaik- und Biogasanlagen fließen also zusätzlich 880 Millionen Euro in den lokalen Wirtschaftskreislauf, die ohne den Betrieb der EEG-Anlagen nicht vorhanden wären. Dies kann man mittlerweile an vielen Stellen im Kreis ablesen: Die Gemeinden haben neue Spielräume, um Ihre Orte fit für die Zukunft zu machen.

Die Genossenschaften haben Ihr Wissen mühevoll, quasi autodidaktisch aufgebaut. Weil wir unser Know-how und Erkenntnisse mit anderen Kommunen teilen möchten, haben wir den Leitfaden Bürgernahwärmenetze im Rhein-Hunsrück-Kreis erstellt.

Sind sie im Rhein-Hunsrück-Kreis und insbesondere in Kappel mit den Erneuerbaren bereits „am Ende angekommen“ oder was kommt als nächstes?
Wer einmal vom Thema Energiewende begeistert ist, schaut immer zusammen mit seinen Nachbarn, welche Ideen noch umgesetzt werden können. Die nächste große Aufgabe ist die Mobilitätswende. Wir sind davon überzeugt, dass die E-Mobilität DIE Chance für den ländlichen Raum ist. Auch E-Carsharing gehört nicht nur in Städte, sondern in unsere Dörfer.

Disclaimer
Der Rhein-Hunsrück-Kreis in Rheinland-Pfalz ist Vorreiter für kommunalen Klimaschutz und die dezentrale Energiewende. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Kreis von einer strukturschwachen Gegend zu einem internationalen Vorbild entwickelt – und seinen CO2-Ausstoß von 680.000 Tonnen jährlich auf bilanziell null gesenkt. Deshalb haben wir von der Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) ihn im November 2018 zur Energie-Kommune des Jahrzehnts gekürt: „Zahlreiche Bürger*innen, Gemeinden und Unternehmen haben gemeinsam die Ärmel hochgekrempelt und die dezentrale Energiewende vor Ort mit viel Herzblut umgesetzt“, hieß es in dGaßer Begründung der Jury. Um das Engagement des Kreises zu würdigen und die vielen guten Beispiele aufzubereiten, stellen wir in den Sommermonaten drei Gemeinden aus dem Rhein-Hunsrück-Kreis als Energie-Kommunen des Monats vor: Kappel, Schnorbach und Mörsdorf. Weitere Infos zu Erneuerbaren im Rhein-Hunsrück-Kreis finden Sie auf der Seite des Kreises.

Fotos: ENERCON; JUWI; Johannes Gaß