Die Bedeutung der Technikgeschichte für die Erneuerbaren Energien

Technikgeschichte??? Was soll das – diese ‚ollen Kamellen‘? Schließlich werden auch bei den Erneuerbaren Energien Jahr für Jahr hunderte von Millionen Euros, Dollars etc. für die Forschung und deren Umsetzung ausgegeben. Das nennt sich ‚technischer Fortschritt‘. Da muss man sich doch nicht mit dem überholten Kram von gestern beschäftigen.

Jedenfalls dürfte so oder ähnlich auch die Reaktion von manchen Leser*innen dieses Titels gewesen sein. Doch die Technik ist nun mal nicht eine gerade Wissenslinie zu immer größeren, höheren, perfekteren, schöneren Erfindungen. Die Technik dreht in vielen Bereichen „Pirouetten“: Dinge werden erfunden, verbreiten sich – oder auch nicht – und verschwinden wieder aus dem Gedächtnis der Menschheit. Das hängt nicht nur am „kurzen Gedächtnis“ der Menschen. Oft waren Techniken zur Zeit ihrer ersten Erfindung einfach noch nicht umsetzbar, weil es an der Konstruktionserfahrung, an der Fertigungstechnik oder an den geeigneten Materialien fehlte.

Beispiele gefällig? Anfang der 1990er Jahre veröffentlichten drei kanadische Wissenschaftler das Konzept zu einem flüssigen astronomischen Spiegel. Das sind senkrecht in den Himmel „schauende“, rotierende Hohlspiegel, deren Rotation eine Flüssigkeit (meist Quecksilber) gleichmäßig über die Oberfläche verteilt. Vorteil des Konzepts: Die Hohlspiegelfläche ist sehr gleichmäßig und muss nicht mühsam auf optische Fehlerfreiheit hin poliert werden. Nachteil des Konzepts: Der Spiegel ist ausschließlich auf den Zenit ausgerichtet. Aus der Publikation der drei Wissenschaftler geht hervor: Sie gingen davon aus, dass einer von ihnen in den 1980er erstmals auf diese Idee gekommen sei und sie nun stolz die Idee erstmals als Konzept präsentieren konnten.

Leider hatten die Kanadier wohl übersehen, dass Sir Isaac Newton (1643 –1727) ihnen mit der Idee rund 300 Jahre zuvor gekommen war – ein gar nicht so ungewöhnlicher Fehler, wenn man die Technikgeschichte seines Faches nicht beherrscht. Und auch wenn der flüssige Spiegel dann als „Large Zenith Telescope (LZT)“ 2003 nahe Vancouver errichtet wurde – es war keine Sternstunde kanadischer
Wissenschaft.

Anders sieht es natürlich aus, wenn eine technische Innovation erst einmal nicht umgesetzt werden kann, und deshalb aus dem Blickfeld verschwindet. So geschehen bei den Inlineskates. Sie scheinen z.B. 1823 in in Dinglers Polytechnischem Journal auf, können aber zu der Zeit noch nicht in Massen produziert werden. Ab 1983 tauchen sie unter dem Markennamen „Rollerblade“ erneut in der Öffentlichkeit auf – und jetzt verbreiten sie sich als neuer, „angesagter“, schicker Freizeitsport. Solche „Wiederauferstehung“ alter Techniken dürfte häufiger vorkommen, als allgemein bekannt ist. Und manchmal meint man, „den Zipfel des Mantels der Geschichte“ gerade noch „um die Ecke verschwinden“ zu sehen. (…). Doch zurück zu den Erneuerbaren Energien. Gab und gibt es auch hier Ideen, die mehr oder minder verschwanden, um dann irgendwann wieder aufzutauchen? Ja natürlich gab und gibt es die – 1983 veröffentlichte Prof. Adolf Goetzberger, Gründungsdirektor des Fraunhofer ISE (1981) und später Präsident der DGS (1993–97), zusammen mit Dr. Armin Zastrow in der SONNENENERGIE die Studie „Kartoffeln unter dem Kollektor“.

Auch wenn die PV bereits erwähnt ist: In dem Papier geht es primär darum, wie man Ackerflächen mit geeigneten Pflanzen optimal mit Solarthermie-Kollektoren überdacht, so dass sich eine Doppelnutzung der Fläche ergibt (Flächensynergie). Goetzberger versuchte über Jahre hinweg, die Idee praktisch umzusetzen, stellte dazu Anträge bei Ministerien und Stiftungen – vergeblich. Die Enttäuschung darüber war ihm noch in einem DGS-News-Interview 2019 deutlich anzumerken.
Auch von Seiten der Landwirte gab es kein großes Interesse – vielleicht zum Teil, weil der Wärmebedarf bei vielen landwirtschaftlichen Betrieben im Sommer überschaubar, und durch billige Fossil- Energie einfach zu decken war. Also wieder nur eine brillante Idee ohne Umsetzungsoption?

Als durch das EEG nach 2000 die Preise der PV-Module deutlich sanken, konnten auch große Freiflächen-PV-Anlagen umgesetzt werden. Damit bekam das Goetzberger-Konzept eine zweite Chance im neuen Gewande: AgriPV, Agrivoltaic, Agrivoltaism – wie immer die Bezeichnung auch lautet, die Idee wird inzwischen weltweit umgesetzt, von Frankreich bis nach Arizona, und nicht zuletzt auch in ihrem Ursprungsland Deutschland. Und weil bei uns immer mehr Freiflächen-Solarthermieanlagen für Nah- und Fernwärmenetze entstehen, kehrt die Idee vielleicht sogar zu ihrem Ursprung zurück: Kartoffeln unter dem Kollektor.

Götz Warnke, Deutsche Gesellschaft für Sonnenenergie e.V.