Energie-Kommune des Monats: Gerstetten

Dezember 2017

Im Osten von Baden-Württemberg findet sich die Gemeinde Gerstetten eingebettet zwischen Hochflächen der Schwäbischen Alb und Trockentälern. Das Thema Klimaschutz steht hier weit oben auf der Agenda, Bürgermeister Roland Polaschek macht deutlich: „Gerstetten hat sich langfristig das energetische Ziel gesetzt, Versorgungssicherheit und stabile Preise für Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Das konnten wir nur über Erneuerbare-Energien-Projekte vor Ort erreichen.“

Gerstetten setzt auf erneuerbaren Technologiemix
Die Gemeinde setzt auf einen Technologiemix, um den Großteil der Energieversorgung für 11.600 Einwohner mit Erneuerbaren Energien gewährleisten zu können. Insgesamt wird Gerstetten von 85 Prozent erneuerbarem Strom versorgt. Die ersten Windenergieanlagen entstanden bereits 2001. Im Laufe der Jahre folgten weitere Windenergieprojekte, die die fossile Abhängigkeit in der Gemeinde verringerten. Auch bei der Nutzung von Solarenergie geht die Kommune mit ihren installierten Photovoltaikanlagen auf öffentlichen Gebäuden als gutes Beispiel voran. Darüber hinaus speist ein Solarpark mit der Fläche von 36.000 qm jährlich etwa 2 Millionen kWh Sonnenenergie in das Netz ein. Mithilfe von Wasserkraft werden auf dem Gemeindegebiet 200.000 kWh pro Jahr an Strom erzeugt. Für zusätzlichen erneuerbaren Strom sorgt zudem eine große Anzahl von Biogasanlagen auf dem Gemeindegebiet. Ein besonders beeindruckendes Wärmeprojekt der Gemeinde liegt im Ortsteil Gussenstadt: Das Bioenergiedorf mit seinen 1.400 Einwohnern wurde 1971 eingemeindet und ist auch heute noch durch seine Geschichte als Bauerndorf geprägt. So ist dort eine Vielzahl an bedeutenden landwirtschaftlichen Betrieben ansässig. Den ersten Schritt zur Umsetzung des Nahwärmeprojektes, welches jährlich circa 250.000 Liter Heizöl einspart, machten 10 Landwirte, die gemeinsam den Bau einer Biogasanlage realisierten.

Energiegenossenschaft ermöglicht erneuerbares Strom- und Nahwärmeprojekt im Ortsteil Gussenstadt
Bei der Planung zur Modernisierung der Wärmeversorgung im Ortsteil Gussenstadt war sich Bürgermeister Roland Polaschek sicher: „Die Bürgerinnen und Bürger müssen die Möglichkeit haben, sich finanziell am Ausbau von Erneuerbaren-Energien-Anlagen beteiligen zu können. Nur so schaffen wir Akzeptanz und die Option, direkt vom Gewinn zu profitieren.“ Vor diesem Hintergrund gründete die Gemeindeverwaltung gemeinsam mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern im Jahr 2012 die Energiegenossenschaft Gussenstadt eG. Diese prüfte mögliche Investitionsoptionen für die Erweiterung der Biogasanlage um ein Wärmenetz. Thomas Häcker, Gründungsmitglied der Energiegenossenschaft, erinnert sich, warum insbesondere eine neue Wärmelösung her musste: „Die Genossenschaft strebte mit der umweltfreundlichen Lösung an, sowohl gesetzliche Vorgaben zu erfüllen als auch eine Entkoppelung vom Weltenergiemarkt zu erreichen. Darüber hinaus vermeidet eine Wärmeversorgung auf Basis von Erneuerbaren Energien Abgasverluste und ist somit effizienter.“

Ein großes erneuerbares Wärmenetz gestaltete sich aufgrund der niedrigen Zahl an Anschlussnehmern mit geringem Wärmebedarf nicht als wirtschaftlich, bei der Kalkulation musste der niedrige Erdgaspreis mit einbezogen werden. Die Entscheidung fiel zugunsten eines kleinen Wärmenetzes, welches eine hohe Anschlussdichteund somit geringeren Wärmepreis (4,3-5,9 Cent/netto pro Kilowattstunde) ermöglichte. Die Genossenschaft konnte bei den benötigten Investitionen auf Zuschüsse des Landes Baden-Württemberg und des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zurückgreifen. Weiterhin refinanzierte sie die Investition über die Direktvermarktung des Stroms sowie über die Erlöse des Wärmeverkaufs. Die Flexibilitätsprämie des EEGs kann für den Zubau des dritten BHKWs genutzt werden. „Eine Genossenschaft zu gründen und die Investition zu tätigen war einfach. Aber die ersten Wärmekunden zu überzeugen, das war enorm schwer. Uns gelang dies unter anderem mithilfe von organisierten Exkursionen zu bereits realisierten Wärmeprojekten“, betont Thomas Häcker. 2014 begann der Bau des 4,8 Kilometer langen Wärmenetzes, welches mittlerweile 100 Genossenschaftsmitglieder versorgt. Somit sind circa 40 Prozent der Gussenstädter an das Wärmenetz angeschlossen sowie das Schulgebäude, der Kindergarten und eine Sporthalle.

Nutzung lokaler Ressourcen steigert regionale Wertschöpfung
Bürgermeister Roland Polaschek sieht klare Vorteile in dem Nahwärmeprojekt: „Die Wertschöpfung bleibt in der Region, so wird die Biomasse aus der anliegenden Landwirtschaft zur Verfügung gestellt und es können weite Transportwege vermieden werden. Zudem fließt die Gewerbesteuer der Energiegenossenschaft direkt an die Gemeinde und sowohl Unternehmensgewinne als auch Einkommen aus der Beschäftigung bleiben vor Ort.“ Die Anlagen werden überwiegend mit Energiepflanzen und Reststoffen wie Mist und Gülle aus Landwirtschaftsbetrieben im Umkreis von fünf Kilometern gespeist. Diese Substrate werden im Fermenter zu Biogas vergoren, welches in drei Blockheizkraftwerken (BHKWs) verbrannt wird. Mithilfe eines Generators wird Strom erzeugt, die anfallende Abwärme in das Wärmenetz geleitet und zum Heizen des Fermenters genutzt.

Gussenstadt vereint nachhaltige Wärme und flexiblen Strom
Die Energiegenossenschaft Gussenstadt speist seit 2015 mithilfe eines saisonalen Fahrplans, der sich am Wärmebedarf und an den aktuellen Strombörsenpreisen orientiert, Strom in das Netz ein. Mit der Unterstützung eines Direktvermarkters können die BHKWs somit flexibel gefahren werden: Bei niedrigen Strombörsenpreisen wird die Stromerzeugung heruntergefahren und zu einem attraktiven Zeitpunkt kann vermehrt Strom ins Netz eingespeist werden. Die kontinuierliche Wärmeversorgung wird durch die Kombination von Biogasspeichern und einem Wärmespeicher von 60 Kubikmetern (m³) sichergestellt, so können Spitzenlasten ausgeglichen und die Fahrweise der BHKWs an den Börsenpreisen orientiert werden. Gleichzeitig trägt die flexibilisierte Anlage zur Netzstabilität bei. Die Energiegenossenschaft Gussenstadt plant neben der Nachverdichtung des Wärmenetzes und einer weiteren Optimierung der BHKWs für den Strommarkt, 2018 einen zweiten Speicher mit 80 m³ in das System zu integrieren. Die Gemeinde Gerstetten sieht das Projekt in Gussenstadt als Vorbild und plant auch in anderen Ortsteilen erneuerbare Wärmenetze zu initiieren.