"Nachhaltige Entwicklung ist kein Luxus - sie ist unsere Überlebenschance"
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs hat sich die Arbeit von Iryna Semenenko grundlegend verändert: Aus internationalen Tourismusprojekten wurden humanitäre Hilfseinsätze, aus Klimazielen wurde Überlebensstrategie. Im Gespräch berichtet die Hauptsachbearbeiterin für internationale Zusammenarbeit, Tourismus und Förderung aus Nowowolynsk, wie ihre Gemeinde mit Erneuerbaren Energien, Gleichstellung und europäischer Partnerschaft Widerstand leistet – und warum Nachhaltigkeit im Krieg zur Frage der nationalen Sicherheit wird.
Frau Semenenko, Sie sind Hauptsachbearbeiterin für internationale Zusammenarbeit, Tourismus und Förderung im ukrainischen Nowowolynsk. Seit Frühjahr 2024 sind Sie mit Ihrer Kommune Teil unseres vom Auswärtigen Amt finanzierten Projekts „Energiewende Partnerschaft 3.0“. Im November vergangenen Jahres lernten wir uns bei der Kick-off-Veranstaltung zum ersten Mal persönlich kennen. Auch trafen Sie sich dort erstmalig mit Vertreter*innen ihrer Partnerkommune Hoyerswerda. Ich freue mich, dass wir bei dieser Gelegenheit nun wieder ins Gespräch kommen.
Könnten Sie unseren Leser*innen einen Einblick in Ihren Arbeitstag vor dem Angriffskrieg Russlands geben und aufzeigen, wie sich dieser seit der Invasion verändert hat?
Iryna Semenenko: Vor dem Krieg konzentrierte sich meine Arbeit auf internationale Zusammenarbeit, Tourismusprojekte und die Förderung von Nowowolynsk als moderne Gemeinschaft. Mit Beginn der großangelegten Invasion kamen neue Herausforderungen hinzu: humanitäre Hilfe, Unterstützung für Binnenvertriebene (Internally Displaced Persons IDPs) und Unterstützung von geberfinanzierten Projekten. Aber wir haben nicht aufgehört – wir entwickeln weiterhin Partnerschaften, setzen Initiativen um und arbeiten am Image der Stadt. In dieser Zeit haben wir einzigartige Erfahrungen gesammelt, Praktiken entwickelt, die wir bereit sind, zu teilen, und suchen nach gleichwertigen Partnerschaften, die beiden Seiten zugutekommen.
Die Ukraine besitzt seit Juni 2022 den Status eines Beitrittskandidaten der EU. Bereits seit 2018 hat Nowowolynsk die Europäische Charta für die Gleichstellung von Männern und Frauen unterzeichnet. Spielt diese derzeit überhaupt eine Rolle?
Auch angesichts militärischer Aggression halten wir an europäischen Werten fest. Die Charta für Gleichstellung ist nicht nur ein Dokument, sondern ein Leitfaden, der uns hilft, Menschlichkeit und Gerechtigkeit nicht zu verlieren. Wir achten darauf, dass Hilfe allen zugutekommt – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Status –, denn der Krieg darf die Menschenrechte nicht außer Kraft setzen.
Der Krieg hat die sozialen Dynamiken dramatisch verändert: Viele Männer wurden mobilisiert, Frauen mussten doppelte Verantwortung übernehmen – sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft. Hunderte geflüchtete Frauen mit Kindern kamen in unsere Gemeinde. Trotz des Verlusts ihrer Heimat beteiligen sie sich nun aktiv am lokalen Leben und stellen sich täglich neuen Herausforderungen. Gleichzeitig müssen männliche Veteranen, die von der Front zurückkehren, oft ganz von vorne anfangen – Arbeit suchen, familiäre Beziehungen wiederherstellen, sich an das Leben im Kriegsgebiet anpassen. Frauen sind zur tragenden Stütze an der Heimatfront geworden, erlernen neue Berufe und engagieren sich im Bereich der grünen Energie. Ein Beispiel dafür ist das Projekt zur Installation von Solarpanels auf dem Dach des Novo Business Support Centre, koordiniert von Ivanna Tsytsyuk. Es ist ein Symbol für die Veränderungen, die sowohl Frauen als auch Männer durchlaufen, während sie aus den Trümmern die Zukunft aufbauen.
Das Projekt „Energiewende Partnerstadt“ verbindet Kommunen über Nachhaltigkeit und internationale Zusammenarbeit. Was bedeutet lokale Partnerschaft über Grenzen hinweg in Zeiten von Krieg und Krise für Sie und Ihre Stadt?
Partnerschaft in Kriegszeiten ist viel mehr als formale Zusammenarbeit. Sie beinhaltet Gesten der Solidarität, humanitäre Hilfe, Unterstützung unter Beschuss und in Krisen – und Hoffnung. Unsere Partner aus Deutschland, Frankreich, Polen, Belgien, Litauen, Tschechien und der Slowakei sind wahre Freunde, die uns nicht allein lassen. Sie schicken medizinische Geräte, Generatoren, Möbel für Vertriebene – und zeigen uns mit ihrer Präsenz, dass die Ukraine nicht allein ist.
Durch die Teilnahme am Projekt hoffen wir, nicht nur wichtige Projekte im Bereich erneuerbarer Energien umzusetzen, sondern auch eine starke, gleichberechtigte Partnerschaft mit der Gemeinde Hoyerswerda aufzubauen. Wir wollen gemeinsam wachsen, voneinander lernen und bewährte Praktiken austauschen – vom Energiemanagement bis zur Anpassung von Gemeinden in Krisenzeiten.
Solche interkommunalen Beziehungen funktionieren in beide Richtungen: Wir erhalten nicht nur Unterstützung, wir haben auch etwas zu geben – Erfahrung, Flexibilität, Widerstandskraft. Am wichtigsten ist: Wir teilen eine gemeinsame Zukunftsvision, die auf europäischen Werten, Menschlichkeit und Vertrauen basiert.
Die Energieinfrastruktur wird in diesem Krieg wiederholt angegriffen. Wie hängt Energieunabhängigkeit mit nationaler Sicherheit und der Widerstandsfähigkeit einer Stadt zusammen?
Russland greift gezielt die Energieinfrastruktur der Ukraine an. Unter diesen Umständen ist Energieunabhängigkeit gleichbedeutend mit Sicherheit. Wenn eine Gemeinde über eigene Energiequellen verfügt, kann sie überleben. Das ist nicht nur eine technische Frage, sondern eine Frage der nationalen Souveränität.
Wenn wir über Widerstandsfähigkeit sprechen – haben Erneuerbare Energien im Vergleich zu fossilen Brennstoffen im Krisenfall einen Vorteil?
Ja, sie haben eindeutig einen Vorteil. Sie sind dezentral und dadurch weniger anfällig für wirtschaftliche und geopolitische Erschütterungen beziehungsweise Schocks. Sie ermöglichen ein gewisses Maß an Autonomie – in Schutzräumen, Krankenhäusern, Schulen und kommunalen Einrichtungen. In Kriegszeiten sind erneuerbare Energien eine Quelle der Nachhaltigkeit und Menschlichkeit.
Sie befinden sich in einer Situation, in der langfristige Ziele wie Nachhaltigkeit auf akute Bedürfnisse nach Strom und Wärme treffen. Wie navigieren Sie durch diesen Widerspruch?
In einer Krise stehen diese Ziele nicht im Widerspruch zueinander. Solarpanels auf Schutzräumen sind zum Beispiel eine umweltfreundliche Lösung und gleichzeitig eine Antwort auf den dringenden Bedarf nach Licht und Wärme während Stromausfällen. Nachhaltige Entwicklung ist kein Luxus – sie ist unsere Überlebenschance und der Weg, die Zukunft zu bewahren.
Welche Unterstützung brauchen Kommunen wie Ihre jetzt – von der nationalen Regierung und internationalen Partnern wie der EU oder den USA?
Wir brauchen kontinuierliche Unterstützung – finanziell, technisch und politisch. Direkte Finanzierung für Gemeinden, vereinfachter Zugang zu europäischen Programmen, fachliche Hilfe im Energiebereich, Wohnraum für Vertriebene. Die Gemeinden stehen an vorderster Front. Wir helfen nicht nur den Menschen – wir halten die Ukraine zusammen.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Welche Rolle werden Erneuerbare Energien und Klimapolitik beim Wiederaufbau Nowowolynsk spielen können?
Sie sind ein zentrales Instrument für den Wiederaufbau. Wir wollen nicht das alte System wiederherstellen, das wir aus Sowjetzeiten geerbt haben – abhängig von Importen oder zentralisierten Ressourcen. Wir wollen eine sichere, smarte, nachhaltige Stadt schaffen, in der Energie sauber, bezahlbar und unabhängig vom Feind ist.
Sie waren kürzlich bei der Ukraine Recovery Conference. Wie kann die Europäische Union lokale ukrainische Behörden besser dabei unterstützen, Erneuerbare Energien nicht nur für den Wiederaufbau, sondern auch als Teil einer gemeinsamen klimafreundlichen Zukunft auszubauen?
Wir brauchen gezielte Programme für Gemeinden: direkte Zuschüsse, technische Hilfe, Zugang zu moderner Technologie. Wir brauchen gemeinsame Projekte, die zeigen, dass der Wiederaufbau der Ukraine und der klimapolitische Wandel Europas Hand in Hand gehen können.
Kontakt:
Anika Schwalbe
Projektleitung: Energiewende Partnerstadt 3.0
a.schwalbe@unendlich-viel-energie.de
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